Stundenprotokoll vom 23.10.07
Protokollanten: Margarete Knepper , Ulrich Naber, Simon Schmitz
Teil 1/3
Diskussion zur Serie „Stromberg“, welche im dokumentarischen Stil gedreht wird:
Fragestellung:
- Besitzt die Serie (als Doku-„Fake“) tatsächlich eine gewisse Authentizität?
- Weshalb muss die Realität als Realität dargestellt werden, quasi „verdoppelt“ werden? Kunst zeichnet sich normalerweise dadurch aus, dass sie nicht einfach die Realität abbildet, sondern Realität auf differierende, von der bekannten Wirklichkeit unterscheidbare Weise darstellt. Auf diese Weise soll auf spezielle Aspekte der Realität aufmerksam gemacht werden. „Stromberg“ bedient sich aber genau nicht dieser Definition von Kunst, sondern versucht in Form einer vorgetäuschten Realität auf sich aufmerksam zu machen.
Aber: Durch die „komödiantische Erhöhung“ weckt das Format beim Zuschauer Interesse, und ruft Gefühlsregungen, wie z.B. das sogenannte „Fremdschämen“ hervor, ein Gefühl des Zuschauers, bei dem er sich tatsächlich selber für Handlungen von Protagonisten schämt.
Es scheint zu dem irrelevant, ob die Handlung von „Stromberg“ innerhalb einer Versicherung spielt oder nicht. Der Rahmen bietet nur den Anker für die Protagonisten und die Basishandlung, besitzt aber keinen entscheidenden Schwerpunkt, welcher unentbehrlich wäre. Es geht vielmehr um Menschen und ihre verschiedenen Charaktereigenschaften, welche sich in unterschiedlichsten Situationen unterschiedlich darstellen.
Identifikationspotenzial haben zudem auch die Nebendarsteller der Serie, welche in einer gewissen Ohnmachtsstellung gegenüber höhergestellten Kollegen stehen.
Stil & Technik bei Stromberg:
- Dokumentarische Kamera: Handkamera, verwackelt, Zooms, Schauspieler schauen auch in die Kamera usw.
- Kameramann besitzt eigenen Willen: Das Filmteam wird nicht nur oftmals explizit angesprochen, sondern zoomt auch eigenständig auf spezielle Objekte, dadurch noch „dokumentarischer“, da man deutlich merkt, dass eine Kamera filmt, ein „Vergessen“ der Technik quasi nicht möglich ist.
Fazit: „Stromberg“ ist eine authentische Doku-Fiktion. Authentisch deshalb, weil de Zuschauer durch Sozialisation der Sehgewohnheiten erkennt, dass es sich um dokumentarischen Stil handelt. Der Zuschauer hat über Generationen gelernt, wie Dokumentationen gedreht werden, daher erkennt er solche Formate überhaupt. „Stromberg“ nutzt diesen Stil und wird dadurch vom Betrachter „verstanden“
Teil 2/3
Direct cinema und cinéma verité
- Wende im Dokumentarfilm nach (zeitlich) Grierson
Referat:
- Dziga Vertov ==> Montage von Wirklichkeitsmomenten ==> darauf baut auf ==> direct cinema
- reale Personen in möglichst authentischen Situationen
- eher Beobachter als Regisseur
- keine Fragen/Kommunikation zwischen „Regie“ und Personen im Film
- ==> ask nothing … but the permission to film
- Ziel: Menschen eine Stimme geben, denen vorher keine Möglichkeit sich zu relevant zu äußern gegeben war / soziales Leben zeigen
- Kritik: starke Gewichtung der Montage
- Film: Primary (Robert Drew, 1960)
- ==> bisher unbekannte Einsichten in den Wahlkampf
- ==> trotzdem gewisser Spielfilmcharakter ==> Dramaturgie mit Hinarbeitung auf eine Auflösung etc.
- direct cinema will möglichst keine Botschaft
- cinéma verité ==> in Frankreich
- Jean Rouch ==> zeigt Umbrüche (Afrika u. Europa) und soziales Leben
- kein Drehbuch
- technische Qualität nicht so wichtig (mobiles Equipment) ==> verstärkt Authentizität (?)
- kaum Nachbearbeitung /Montage
- Leute interagieren mit der Kamera (z.B. in Interviews)
 
- Film: Chronik eines Sommers
Primary (Film)
- Kennedy wird fast nur in der Stadt gezeigt
- Humphrey dagegen auf dem Land
- ==> tendenziös für Kennedy sowohl qualitativ wie quantitativ
- musikalische Untermalung subjektiviert
- Kennedy produziert sich weniger im ON (wird durch Montage nahegelegt)
- ==> Veranlassung zur Dramaturgie wegen des Zeitrahmens ==> repräsentative oder tendenziöse Szenen?
- Kameraperspektiven sind sehr dicht an den Leuten ==> wirkt emotionalisierend
Teil 3/3
Im Anschluss wurde das Augenmerk der Diskussion zurückgeführt auf die in der vergangenen Woche gesehene Episode „Die Putzfrau“ aus der Serie „Stromberg“ unter der Fragestellung nach der Rolle und den Merkmalen von Authentizität in den vorgeführten Ausschnitten. Als Authentizitätsmarker wurde hier zunächst die Länge der Einstellungen genannt. Sehr lange Einstellungen mit wenig Handlung, die in der Regel vermieden werden, weil sie als langatmig erachtet werden, werden hier als Zeichen der Echtheit und Spontaneität zugelassen um den Eindruck der Freiheit von dramaturgischen Eingriffen zu erwecken.
An dieser Stelle wurde eine Parallele zur Tradition des Neorealismus und der Nouvelle Vague gezogen, die sich ebenfalls der Länge als cinematografisches Stilmittel bedienten. Als weitere Authentizitätsmarker im Bereich der Bild- und Kameratechnik wurden im Folgenden Close-ups, „unsaubere“ Bilder sowie die Verfolgung der Akteure durch die Kamera genannt.
Der weitgehende Verzicht auf Toneinspielungen und die Beschränkung auf die Verwendung von O-Tönen im Falle der Serie „Stromberg“ wurde als weiteres Stilmittel zur Erreichung von Authentizität angeführt und damit in Kontrast gesetzt zum Film „Primary“, in dem die unterlegte Musik als Kommentar zum Gesehenen fungiert. Die schlechte Tonqualität wurde dabei als weiterer realitätssuggerierender Faktor hervorgehoben.
Im Folgenden wurde die besondere Bildqualität der Handkamera als Faktor der Realitätssimulation näher diskutiert. Im Fokus stand dabei die Frage, ob schlechte Auflösung und verwackelte Kameraführung vom Publikum tatsächlich als authentisch wahrgenommen werden, oder aber diese Imperfektionen vielmehr die „Gemachtheit“ der Aufnahmen in das Bewusstsein der Rezipienten zurückbringen. Als Argument für die „Unsauberkeiten“ als Authentizitätsmarker wurde die realistische Abbildung der Produktionssituation angeführt: befindet sich der Kameramann innerhalb einer Menschenmenge, so ist die Herstellung nicht verwackelter Aufnahmen nicht möglich, sind „Wackler“ also ein Indiz dafür, dass die Aufnahmesituation realistisch wiedergegeben wurde.
Als Gegenargument wurde genannt, dass eine professionelle Bildqualität heute eher dem vom Rezipienten gewohnten technischen Standard entspricht, eine abweichende Qualität also vielmehr die Kamera als zwischengeschaltetes technisches Instrument bemerkbar macht und damit den Rezipient aus seiner temporären Kontemplation entreisst. Dieses Entreissen aus der Situation, der sogenannte Emergenzeffekt, ist dabei umso wahrscheinlicher, je grösser das Bestreben der Produzenten ist den Eindruck von Authentizität zu erzeugen.
In einem Exkurs wurde diskutiert, ob die vom Direct Cinema angestrebte Ausblendung der Kamera überhaupt möglich bzw. sinnvoll ist, oder ob der Ansatz der Einbeziehung der Kamera beim Cinéma Verité der realistischen Abbildung der Situation näher kommt. Im Mittelpunkt der Überlegungen stand hier die Frage nach dem Einfluss der Anwesenheit einer Kamera auf das Verhalten der gefilmten Personen. Hier wurde die Beobachtung geäussert, dass befragte Personen in frühen Dokumentationen trotz der geringeren Vertrautheit mit dem Medium Film natürlicher vor der Kamera zu reagieren scheinen als in späteren Produktionen. Diese Beobachtung wurde auf die steigende Bewusstheit der Rezipienten im Umgang mit Film und Fernsehen zurückgeführt, insbesondere auf die Angst vor dem Missbrauch der eigenen Aussagen, beruhend auf eigenen und fremden Erfahrungen mit den Medien in der modernen Gesellschaft.
Die folgende Diskussion widmete sich – unter Bezugnahme auf Godards Kritik zu Richard Leacock – der Frage nach Wahrheit und Lüge im Film bzw. bei der Filmproduktion. Godards Kritik an Leacock lässt sich als ein Vorwurf mangelnden Bewusstseins für die Unausweichlichkeit von Subjektivität im Versuch der Darstellung der Realität  zusammenfassen. Sein Vorwurf besteht darin, dass er durch das Negieren der jeder Filmproduktion inhärenten Subjektivität die Objektivität seiner Darstellungen mindert.
Die Frage danach, was als „Wahrheit“ im Bezug auf filmische Darstellung gelten kann, führte zu der Überlegung ob – wenn die Aufnahmen die reale Situation im Aufnahmemoment wiedergeben sollen – eine realistische oder aufrichtige Darstellung von in der Vergangenheit liegenden Situationen überhaupt möglich ist. Herr Professor Wetzel stellte an dieser Stelle die Begriffe Authentizität und Realität einander gegenüber und nahm Bezug auf Susan Sontag, die feststellte, dass jede Darstellung der Realität keine reine Abbildung sondern vielmehr ein produziertes Modell einer subjektiven Realität ist. Obwohl das Medium Film wie Professor Wetzel herausstellte also als Medium der Wahrheit gilt, weil zumindest das, was auf der Leinwand gezeigt wird sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in dieser Form vor der Kamera befunden haben muss, entwirft auch hier jede Darstellung der Realität gleichzeitig eine Theorie über die Realität. In diesem Zusammenhang wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern und unter welchen Gesichtspunkten also Filme wie Der Soldat James Ryan oder Band of Brothers als authentisch gelten können unter der Voraussetzung, dass es sich bei den Darstellungen um eine Nachbildung historischer Situationen handelt.
Mit der Feststellung der Notwendigkeit der Klärung der Bedeutungsdimensionen des Begriffs Authentizität wurde die Sitzung beschlossen.
 
		 
		
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